13:30 Ursula Krechel
Geisterbahn. Roman. Jung & Jung. Salzburg, 6. Sep 2018
14:00 Thomas Klupp
Wie ich fälschte, log und Gutes tat. Roman. Piper. München, 4. Sep 2018
14:30 Lucy Fricke
Töchter. Roman. Rowohlt. Reinbek, Feb 2018
15:00 Michael Lentz
Schattenfroh – Ein Requiem. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., 29. Aug 2018
15:30 Sina Klein
skaphander. Gedichte. Klever Verlag. Wien, Apr 2018
16:00 Christoph Peters
Das Jahr der Katze. Roman. Luchterhand. München, 3. Sep 2018
16:30 Michael Kleeberg
Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan. Galiani. Berlin, 16. Aug 2018
17:00 Christian Uetz
Engel der Illusion. Gedichte. Secession. Zürich, Feb 2018
17:30 María Cecilia Barbetta
Nachtleuchten. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., 15. Aug 2018
18:00 Angelika Klüssendorf
Jahre später. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln, Feb 2018
Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert
Gespräche Nebenpodien: Maike Albath, Michael Braun, Anne-Dore Krohn, Dirk Kruse
Schlossgarten: FM-Anlage für Hörgeschädigte – Ausleihe an der Information
Die Kraft des Erzählens
Gäbe es eine Vielfliegerbonuskarte für die Besucherinnen und Besucher des Poetenfests, so würden ihnen in diesem Jahr so viele Kilometer gut geschrieben wie selten zuvor. Doch mögen die Meere unter ihnen noch so blau sein, die Wiesen noch so grün – in der aktuellen Literatur liegt niemand am Strand und sonnt sich, hängen keine Gedichte an den Bäumen zum lockeren Abpflücken und schnellen Verzehr. Reiseziele in der aktuellen Literatur bieten weder geistige Wellnessoasen noch touristische Erholung. Ganz gleich, ob die scheinschöne Schweiz oder die Unterwelt Japans, eine Ölplattform mitten im Meer oder der von Terror geschlagene Iran, eine spießige Kleinstadt ganz in der Nähe oder die Kunstszene in Berlin, ein Gletscher in den französischen Alpen oder der „Weltenrand“ – aus der Vogelperspektive der Literatur sieht man die Welt am Boden genauer.
Die aktuelle Literatur ist vor dem Hintergrund der Bedrohungen unserer Gegenwart und in den Ruinen der Geschichte bevölkert von rätselhaften, merkwürdigen, aufrüttelnden, aufbegehrenden, abenteuerlichen, verstörenden, absurden, grotesken und komischen Gestalten. Ihr Unterwegssein ist kein Zeitvertreib, sondern Folge innerer und äußerer Zwänge. Sie mussten aus persönlichen oder aus politischen Gründen das Weite suchen, fliehen, ihre Heimat verlassen, zurück lassen ihr Hab und Gut, ihre Freunde, ihre Lieben. Indem die Autorinnen und Autoren über sie schreiben, errichten sie ihnen ein Denkmal.
„Weltenrand“ – dieses kühne, an die Apokalypse gemahnende Wort findet sich im Titel eines tausendseitigen (!) Werkes, aus dem der Autor zum ersten Mal vor großem Publikum lesen wird. Der Roman „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss (Sa, 16:30) ist ein spektakuläres Debüt. Was heißt „ein Roman“? Es sind fünf Bücher auf einmal – so unabhängig voneinander, wie eng miteinander verflochten. Ins Reich der aufgehenden Sonne nimmt uns Christoph Peters in seinem neuen Roman „Das Jahr der Katze“ mit (So, 16:00). Es geht um schmutzige Immobiliendeals und Drogenhandel. Die Protagonisten der Unterwelt rühmen sich, in der Tradition der Samurai-Zeit zu stehen. Christoph Peters, ein großer Kenner Japans und seiner Kultur, entführt uns mit den Mitteln eines Thrillers in unbekannte Welten.
Endlich ein neuer Roman von Michael Kleeberg! In „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ sind ein Lehrer, eine iranische Sängerin, ein libanesischer Pastor, ein polnischer Handwerker, ein Sozialarbeiter, ein arabischer Lyriker und andere Einwanderer und Auswanderer auf der Suche nach dem großen Glück in einer globalisierten Welt (So, 16:30). Sein Roman, unterteilt in zwölf Bücher, handelt von den Konflikten unserer Zeit: Terrorismus, Fundamentalismus, dem Kampf der Kulturen. Bei Lucy Frickes „Töchter“ sind es zwei Frauen in der Mitte ihres Lebens, die zu einer Reise in die Schweiz aufbrechen (So, 14:30). Auf der Rückbank der todkranke Vater. Der groteske Trip führt sie immer tiefer hinein in die Abgründe ihres bisherigen Lebens. Je länger sie unterwegs sind, umso dringlicher rückt die Frage an sie heran: Wie finden wir aus unseren Familiengeschichten wieder heraus?
Wenn man auf einem verschneiten Alpenpass stecken bleibt und die Nacht im Auto verbringen muss, ist eine Erkältung zwangsläufig die Folge. Nicht aber, wenn einer der beiden Insassen etwas zu erzählen hat, was nicht nur Herz und Verstand berührt. Bis in die Zeit der französischen Revolution lässt Alex Capus in „Königskinder“ seinen Fahrer zurückblicken, um der Freundin die Liebesgeschichte eines Knechts und der Tochter eines reichen Bauern zu erzählen, die sich just da zugetragen haben soll, wo die beiden im Schnee stecken geblieben sind (Sa, 15:00).
Von den Bergen ins Meer. Aus dem Auto auf ein Schiff. Mit dem Schiff auf die Plattform einer Bohrinsel: Dort hat gerade ein Arbeiter in einer stürmischen Nacht seinen Freund verloren. Dessen Tod ist für ihn Anlass, die Familie des Verunglückten in Ungarn aufzusuchen. Die Rückreise führt ihn über Umwege an die westafrikanische Küste, nach Malta und Italien zurück in seine ursprüngliche Heimat: das Ruhrgebiet. Anja Kampmanns Roman „Wie hoch die Wasser steigen“ ist eine der Entdeckungen in diesem Jahr (Sa, 14:30). Eine große Entdeckung mit seinem Roman „Paradiso“ war vor einigen Jahren auch der in Erlangen geborene Thomas Klupp. „Ein herrliches Buch!“, bescheinigte Schriftstellerkollege Benedict Wells, „pointiert, witzig, manchmal böse, funkelnd“. Nun stellt Thomas Klupp seinen neuen Roman vor (So, 14:00). Die Erwartungen sind entsprechend hoch, zumal in „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“ die fiktive „Vorzeigekleinstadt“, in der die Wirtschaft boomt und wo die Damen des „Lions-Club“ Charity-Barbecues für Flüchtlinge organisieren, durchaus in Franken liegen könnte.
Die herrlichsten Blüten unserer Wohlstandsgesellschaft treten vielleicht nirgends so deutlich zu Tage wie im Kunstbetrieb Berlins. Hier hat sich Karl, noch keine dreißig, einen Namen gemacht. Gewiss auch mit Unterstützung seiner Eltern, einem Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Als seiner Mutter ein Gehirntumor diagnostiziert wird und sein Vater sich erhängt, ändert sich jedoch alles schlagartig. Karl kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit, trifft dort Tanja und die Liebesgeschichte „Leinsee“ von Anne Reinecke nimmt einen überraschenden Verlauf (Sa, 17:00).
Ihren ersten Roman hat Maike Wetzel geschrieben. Schon vor seinem Erscheinen wurde er mit Lobeshymnen überhäuft und unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet. „Elly“ erzählt vom plötzlichen Verschwinden eines elfjährigen Mädchens und davon, wie ihre Familie, hin und her gerissen zwischen Trauer, Verzweiflung und Hoffnung, damit kämpft weiterzuleben (Sa, 16:00).
Was der Tod des Vaters für das Weiterleben bedeutet, das ist eine existentielle Herausforderung, der sich in der Vergangenheit schon viele Schriftsteller gestellt haben – über ein Leben zu erzählen, von dem der Sohn zu Lebzeiten des Vaters nicht so viel wusste wie er jetzt wissen will. In „Schattenfroh“ (So, 15:00) gehen wir mit dem Autor Michael Lentz auf Spurensuche nach einem Vater, zu dessen persönlichkeitsprägenden Erfahrungen Verwüstung und Zerstörung gehörten – ein Luftangriff im Zweiten Weltkrieg. Nachdem María Cecilia Barbetta 2008 ihren ersten Roman vorgelegt und damit gleich den Aspekte-Literaturpreis erhalten hatte, wartete man sehnlichst auf ein neues Buch der in Buenos Aires geborenen Schriftstellerin. Nun ist es endlich da und wurde schon vor dem Erscheinen mit dem Alfred-Döblin-Preis gekürt. In „Nachtleuchten“ (So, 17:30) erzählt Barbetta von der gespenstischen Atmosphäre am Vorabend eines politischen Umsturzes – am Beispiel von Klassenkameradinnen an einer Mädchenschule, einem Friseur und einem Automechaniker.
Es gehört zur Tradition des Poetenfests, dass der Ende Juni in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnete Text zu Gehör gebracht wird. In diesem Jahr stammt er von einer Autorin, die aus der Ukraine kommt und erst seit 2014 in deutscher Sprache schreibt: In ihrer Erzählung „Frösche im Meer“ thematisiert Tanja Maljartschuk (Sa, 18:00) das mangelnde Interesse der jüngeren Generation an den Lebensumständen ihrer älteren, ins gesellschaftliche Abseits geratenen Verwandten. Der junge Straßenfeger Petro – als Geflohener besitzt er keinen Pass – ist eine Ausnahme. Er kümmert sich selbstlos um eine alte Frau und organisiert für sie den mühsamen Alltag.
Was Flucht und Vertreibung für einzelne Menschen, für Familien, für ganze Volksgruppen bedeutet – davon erzählte Ursula Krechel schon 2008 in ihrem Roman „Shanghai fern von wo“. In ihrem neuen Roman „Geisterbahn“ wird das Schicksal der Familie Dorn weiter erzählt, die als Sinti infolge im NS-Regime beispielloser Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt war. Auch nach dem Ende des Kriegs haben sie keinen Grund, den politischen Institutionen zu vertrauen (So, 13:30).
Auch Angelika Klüssendorf hat mit „Jahre später“ eine Fortsetzung früherer Romane geschaffen. Mit „Das Mädchen“ und „April“ erreichte sie viele Leser, auch die Literaturkritik war von der existentiellen Dringlichkeit ihrer Bücher eingenommen. Sie erzählten vom Werdegang eines widerspenstigen Mädchens zur selbstbewussten jungen Frau. Im dritten Teil der Trilogie ist April endgültig erwachsen und gerät in eine Ehe mit einem übergriffigen Mann, zu dem sie nicht passt, ohne den es andererseits aber auch nicht geht (So, 18:00).
Wie die Liebe sich als eine Lebenslüge herausstellen kann – davon weiß Kristine Bilkau in ihrem Roman „Eine Liebe, in Gedanken“ zu erzählen (Sa, 15:30). Antonia und Edgar scheinen wie füreinander gemacht. Während des zweiten Weltkriegs geboren, machen sie sich Mitte der sechziger Jahre auf, alles besser zu machen als ihre Eltern. Doch auch für sie gestaltet sich das Leben infolge einer Trennung als Teufelskreis, in den auch ihr gemeinsames Kind gerät. Ein ergreifendes Buch ohne laute Töne.
Wie schön, dass es gelungen ist, Hans Pleschinski für einen Auftritt zu gewinnen (Sa, 18:30)! Der in München lebende Autor, ein Meister des biografischen Erzählens, wendet sich, nachdem er in „Königsallee“ über ein Kapitel im Leben Thomas Manns einen Bestseller verfasst hat, in „Wiesenstein“ einem anderen Nobelpreisträger zu: Gerhard Hauptmann. Gerhard Hauptmann und seine Frau, nicht ins Exil gegangen wie andere bedeutende Autoren jener Zeit, reisen im März 1945 zurück an den Ort – die Villa Wiesenstein – wo sie einst ein luxuriöses Leben geführt haben. War es die richtige Entscheidung?
Hajo Steinert
„Europa, gibt es das überhaupt?“ Diese fast verzweifelte Frage nach der Bedeutung einer einst emphatisch begrüßten Utopie ist die Kernfrage in den neuen Gedichten der äußerst vielseitigen Erzählerin und Lyrikerin Nora Bossong (Sa, 14:00). In Allegorien, Gleichnissen und kleinen bukolischen Szenen entwirft sie in „Kreuzzug mit Hund“ Bilder eines europäischen Kontinents, der zwischen Willkommenskultur und Wohlstandsverwahrlosung schwankt. In den Gedichten Sylvia Geists (Sa, 17:30) verbindet sich die naturwissenschaftliche Intelligenz mit einer großen Passion für den unerschöpflichen Bildervorrat der Kunstgeschichte und den Reichtum der poetischen Tradition. „Fremde Felle“ kombiniert die Lust am sinnlichen Detail, an der Konkretion des Alltags mit einer fantasiereichen Reflexivität.
„Alles ist Wundenschlagen“, so hatte einst Ingeborg Bachmann das Verhängnis der Liebe definiert. Diese schwarze Utopie der Liebe hat die 1983 in Düsseldorf geborene Dichterin Sina Klein in den drei großen Zyklen ihres neuen Gedichtbands „skaphander“ kunstvoll fortgeschrieben. In versehrten Sonetten, fragmentierten Volksliedstrophen und zerbeulten Rondeaus werden hier die Beschädigungen der Liebe sichtbar gemacht (So, 15:30). Wenn Christian Uetz (So, 17:00) als „Engel des Tages“ auf die Bühne tritt, dann ertönen in seinem furiosen Monolog verschiedene Stimmen: Ist es der „heilige Hölderlin“, der „reine Rilke“, der entfesselte Zarathustra Nietzsches, der verzückte Mystiker Meister Eckart? Er hat von all diesen Vorbildfiguren etwas in sich aufgenommen, in ihrem Kern ist seine Dichtung ein existenzialistischer Aufschrei – eingeflochten in eine hoch komplexe Textur mit philosophischer Grundierung.
Michael Braun