Irgendwo in diesem Dunkel
Natascha Wodin wurde 1945 als Natalja Nikolajewna Wdowina in Fürth geboren. Sie ist die Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter, die 1943 aus der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt wurden. Nach dem Krieg konnten die Eltern nicht mehr in die Heimat zurück, weil sie dort als Verräter und Kollaborateure um ihr Leben hätten fürchten müssen. Also fristete die Familie ihr entwurzeltes Dasein unter ärmlichen Verhältnissen in Franken. Die ersten fünf Jahre wuchs Natscha Wodin zusammen mit ihrer jüngeren Schwester in einem Schuppen an der Stadtgrenze zwischen Nürnberg und Fürth auf. Danach musste die Familie ins berüchtigte Valka-Lager für „Displaced Persons“ nach Nürnberg-Langwasser umziehen, bis sie schließlich in eine Siedlung für heimatlose Ausländer am Forchheimer Stadtrand gesteckt wurde. Das Mädchen wurde von ihren Mitschülern übel gemobbt. Der entwurzelte Vater trank und prügelte. Und die depressive Mutter ertränkte sich in der Regnitz als die Autorin zehn Jahre alt war.
„Ich wollte weg, immer nur weg, seit ich denken konnte, meine ganze Kindheit wartete ich nur aufs Erwachsenwerden, damit ich endlich wegkonnte. Ich wollte weg aus der deutschen Schule, weg aus den ‚Häusern‘, weg von meinen Eltern, weg von allem, das mich ausmachte und mir vorkam wie ein Versehen, in dem ich gefangen war.“ Das schreibt Natascha Wodin in ihrem 2017 erschienenen Werk „Sie kam aus Mariupol“. Dieser autobiografisch geprägte Roman erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse und stand 28 Wochen lang auf der „Spiegel“-Bestenliste. Er war der späte Durchbruch der Autorin beim Lesepublikum, obwohl Natascha Wodin schon seit 35 Jahren hervorragende Bücher veröffentlicht, die von der Kritik oft gelobt wurden. „Sie kam aus Mariupol“ ist ein faszinierendes, glänzend recherchiertes Buch über die Geschichte ihrer Familie, die sowohl den Terror Stalins als auch den Hitlers erdulden musste. Ein Buch, das gefehlt hat und viel mehr ist als ein Roman. Es ist auch Dokumentation, Memoir, Geschichtsbuch, Spurensuche und ein Denkmal für die Millionen Zwangsarbeiter, die während des Krieges nach Nazi-Deutschland verschleppt wurden.
Leben und Werk sind bei Natascha Wodin aufs engste miteinander verknüpft. Denn nahezu jedes ihrer zehn Bücher beruht auf eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Die Biografie dient der Autorin immer wieder als Erzählstoff, aus dem sie mit großer sprachlicher Kraft Kunstwerke schafft, die von allgemeiner Bedeutung sind. Das treffendste Adjektiv in Bezug auf das Werk von Natascha Wodin ist: schonungslos. Sie schont weder sich noch den Leser. Aber indem sie Teile ihres Lebens zu Literatur verdichtet, erzählt sie uns von dem, was uns alle betrifft.
Das Aufwachsen in einer Flüchtlingssiedlung im fränkischen Wirtschaftswunderland der 50er Jahre ist Thema in Natascha Wodins ebenfalls stark autobiografischen Roman „Einmal lebte ich“, der 1989 herauskam. Herausragend ist auch Natascha Wodins 2009 erschienener Roman „Nachtgeschwister“, in dem sie, ohne Namen zu nennen, ihre Ehe mit dem bekannten Schriftsteller und Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig thematisiert. Eine Amour fou zwischen einem alkoholkranken und gewalttätigen Dichter und einer unter Minderwertigkeitsgefühlen leidenden Ich-Erzählerin.
Druckfrisch zum Poetenfest erscheint der neue Roman von Natascha Wodin. „Irgendwo in diesem Dunkel“ knüpft dort an, wo „Sie kam aus Mariupol“ endete. Die Ich-Erzählerin beschreibt in Rückblenden ihre Zeit im katholischen Kinderheim in Bamberg, die Rückkehr zum brutalen Vater nach Forchheim, ihre Flucht und Obdachlosigkeit und ihr Ankommen im Leben. Ein unter die Haut gehender Roman, der zu großen Teilen in Franken spielt. Große, wichtige Literatur!
Dirk Kruse
aktuell: Irgendwo in diesem Dunkel. Rowohlt. Reinbek, 21. Aug 2018