„... denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein.“
Ein Hanswurst mitten im Dreißigjährigen Krieg? In genau diese brüchigen Zeitläufte katapultiert Daniel Kehlmann in seinem großartigen Roman „Tyll“ (2017) den mittelalterlichen Schelm Tyll Ulenspiegel hinein. Sein Kunstgriff hat einen verblüffenden Effekt: Gerade über die Figur des rebellischen Gauklers, der beschließt, niemals zu sterben, rückt uns die Gewalt näher, wird der Krieg in seiner grausamen Alltäglichkeit fassbarer, entwickeln die ideologischen Verwerfungen etwas Zeitloses. „Tyll“ ist eine raffiniert konstruierte Bilderfolge über ein verheertes Land und eine Geschichte über Verblendung, die eigentümliche Dynamik von Gewalt und die Versehrungen im Inneren der Menschen. In Gesellschaft der Bäckerstochter Nele hüpft der Narr von hier nach dort und spricht immer wieder Wahrheiten aus. Ihm stehen Figuren der Zeitgeschichte gegenüber wie der glücklose „Winterkönig“ und seine ehrgeizige Frau Elisabeth Stuart oder der Schriftsteller Wolkenstein und der Dichter und Arzt Paul Fleming. Die Chronologie wird durchbrochen, die Zeit gestaucht oder gedehnt, und aus der Engführung der verschiedenen Handlungsfäden und Schauplätze ergibt sich ein multiperspektivisches Panorama. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt ein sprechender Esel. Daniel Kehlmann erzählt auf mitreißende Weise von einer Epochenwende – ohne dass nur ein Wort dazu fiele, spürt man eine Nähe zur Gegenwart.
Der deutsch-österreichische Schriftsteller, 1975 in München geboren, lebt mittlerweile in New York. Vielleicht war die geografische Distanz sogar die Voraussetzung dafür, sich mit der Vergangenheit Europas beschäftigen zu können. Es ist nicht das erste Mal, dass Kehlmann zu einem historischen Sujet greift. Schon in der „Vermessung der Welt“ (2005) über den Naturforscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß, das zu einem der erfolgreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsliteratur wurde und 37 Wochen lang auf der „Spiegel“-Bestenliste stand, hatte er die Lebensläufe und Sichtweisen der zwei verschrobenen Wissenschaftler gegeneinander geschaltet und aus dieser Reibung heraus ein Zeitalter vermittelt. Es gibt aber auch andere Sphären, die Daniel Kehlmann auslotet: Von seinem Debüt „Beerholms Vorstellungen“ (1997) bis zu „Ich und Kaminski“ (2003) und „Ruhm“ (2009) hat er mehrfach die Grauzone zwischen faktischer Wirklichkeit und imaginierter Welt erkundet. „Ich habe die Grenze zwischen dem Traum- und Alptraumreich meiner Fantasie und der Wirklichkeit, der sogenannten, immer bemerkenswert durchlässig gefunden“, lässt er den Zauberkünstler in seinem Erstling an einer Stelle sagen. Auch in „Ruhm“, seinem „Roman in neun Geschichten“, lösen sich fortwährend Gesetzmäßigkeiten auf. Da gibt es zum Beispiel den Schriftsteller Leo Richter, der im Ausland quälende Lesungen absolvieren muss und dessen Geliebte panische Angst hat, in einer seiner Geschichten verarbeitet zu werden. In einer anderen Erzählung wird Leo Richter plötzlich von einer seiner erfundenen Gestalten bedrängt, sie beklagt sich über den Fortgang der Handlung. Für seine Helden in „F“ (2013) nahm das Geschäft mit der Realitätsverdrehung und Täuschung eine fatale Wendung. Für Kehlmann selbst dürfte nicht das virtuose Spiel mit den Wirklichkeitsebenen entscheidend sein, sondern vielmehr das – literarische, historische, biografische – Gedächtnis. „Wir aber erinnern uns“, lässt er eines der vielen Kriegsopfer in „Tyll“ sagen. „Auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein.“ Auch deshalb schreibt Daniel Kehlmann Romane.
Maike Albath
aktuell: Tyll. Rowohlt. Reinbek, Okt 2017