Die Chemie als „Stoffveränderungskunst“, so hat einst der Frühromantiker Friedrich von Hardenberg alias Novalis behauptet, sei die Grundlagenwissenschaft der Dichtung, eine „chemische Musik“ der ideale Resonanzboden für die Seele. Ein kühnes Programm, das die heute in Toronto und in der Uckermark lebende Lyrikerin und studierte Chemikerin Sylvia Geist bereits 1997 umgesetzt hat. Ganz im Sinne von Novalis hatte sie damals einen Gedichtzyklus („Periodischer Gesang“) über die chemischen Elemente verfasst und die materiellen und metaphysischen Gehalte von „Chrom“, „Carbon“ oder „Germanium“ freigelegt.
In den Gedichten Sylvia Geists verbindet sich die naturwissenschaftliche Intelligenz mit einer großen Passion für den unerschöpflichen Bildervorrat der Kunstgeschichte und den Reichtum der poetischen Tradition. 1963 in Berlin geboren, war die Autorin nach ihrem Studium der Chemie, Germanistik und Kunstgeschichte einige Jahre als Redakteurin, Verlagsmitarbeiterin und Herausgeberin tätig, seit etlichen Jahren arbeitet sie auch als Übersetzerin und kuratiert literarische und interdisziplinäre Projekte. Ihre vielgelobten Bände „Gordisches Paradies“ (2014) und „Fremde Felle“ (2018) kombinieren die Lust am sinnlichen Detail, an der Konkretion des Alltags mit einer fantasiereichen Reflexivität, die Räume öffnet für kühne Spekulationen über das, was die Person, die Subjektivität, das Individuum ausmacht. An den Rändern der Städte, in den Grauzonen der Suburbs, aber auch in vermeintlich ländlichen Idyllen finden diese Gedichte ihren Stoff und entwickeln daraus überraschende Bildwelten. Wie sehr ihre Poesie dabei von der inspirierten Übermalung und Überschreibung bereits vorhandener Gedichte lebt, zeigt der Umstand, dass ihr aktueller Band „Fremde Felle“ gleich sieben Texte enthält, die anlässlich der inspirierten Auseinandersetzung mit den Gedichten von Kolleginnen und Kollegen entstanden sind. Das Gedicht „Salme sammeln“ ist eine sprachspielerische Antwort auf den „Psalm 137“ ihres Dichterkollegen Ferdinand Schmatz. Und aus „Mängelexemplaren“ entstehen in einem Buchstabenentzug die „Ängelexemplare“, die Verwandte der Himmelsboten sein könnten. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Literaturförderpreis des Landes Niedersachsen (1998), Stipendium Klagenfurter Literaturkurs (1999), Lyrikpreis Meran (2002), Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben, Jahresstipendium des Landes Niedersachsen (2006), Adolf-Mejstrik-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2008), Aufenthaltsstipendium der Sylt-Quelle (2010), Künstlerstipendium der Villa Decius, Krakau (2015).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Morgen Blaues Tier“, Gedichte, Postskriptum, Hannover 1997
– „Nichteuklidische Reise“, Gedichte, BONsai-typART, Berlin 1998
– „Mitlesebuch Nr. 67“, Gedichte, mit Zeichnungen von M. Blümel, Aphaia-Verlag, Berlin 2006
– „Der Pfau“, Novelle, Luftschacht, Wien 2008
– „Vor dem Wetter“, Gedichte, Luftschacht, Wien 2009
– „Letzte Freunde“, Erzählungen, Luftschacht, Wien 2011
– „Gordisches Paradies“, Gedichte, Hanser Berlin 2014
– „Fremde Felle“, Gedichte, Hanser Berlin 2018