„Europa, gibt es das überhaupt?“ Diese fast verzweifelte Frage nach der Bedeutung einer einst emphatisch begrüßten Utopie ist die Kernfrage in den neuen Gedichten der äußerst vielseitigen Erzählerin und Lyrikerin Nora Bossong. In zahlreichen publizistischen Interventionen hat sich die Autorin in den vergangenen Monaten für eine Wiederbelebung der europäischen Idee eingesetzt, die derzeit unter dem Vormarsch der rechtspopulistischen Strömungen und immer giftigeren Nationalismen in West- und Osteuropa zu kollabieren droht. Ihr neuer Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“ führt uns nun von der deutschen Provinz übers Mittelmeer nach Rom bis ins Heilige Land und weiter nach Teheran, wo Kinder auf Plakaten für das Jenseits werben. In Allegorien, Gleichnissen und kleinen bukolischen Szenen entwirft Nora Bossong Bilder eines europäischen Kontinents der zwischen Willkommenskultur und Wohlstandsverwahrlosung schwankt und sich immer mehr als Festung gegen Asylsuchende konstituiert. Ohne eine emphatische Erzählung von Europa, so glaubt Nora Bossong, wird auch die Idee der Demokratie untergehen: „Die Sumpfdotterblume wäre / die sichere Wahl, doch irgendetwas liegt uns an ihr, Europa, / dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt. Wir muntern / sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr.“
1982 in Bremen geboren, hat Bossong am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, an der Humboldt-Universität in Berlin und der Università La Sapienza in Rom studiert. Noch während ihres Studiums in Leipzig entstand ihr erster Roman „Gegend“ (2006). Nach einer langen Reise an den südlichen Rand Europas verirren sich die Helden dieser Geschichte in ein exterritoriales Gelände, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Der Roman „36,9°“ (2015) über den italienischen Philosophen Antonio Gramsci und der Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ (2011) führten dann nach Rom, dem Sehnsuchtsort der Dichterin. „Kreuzzug mit Hund“ bilanziert nun die Gegenwart eines Kontinents, der sich schwertut, die helle Utopie der Gerechtigkeit und Solidarität zu bewahren. (M. B.)
Neben ihrer Lesung im Schlossgarten nimmt Nora Bossong mit ihrer Tandem-Partnerin Rasha Habbal auch an der „Langen Nacht des Weiterschreibens“ teil.
Auszeichnungen u. a.: Bremer Autorenstipendium (2001), Klagenfurter Literaturkurs (2003), Leipziger Literaturstipendium (2004), Prosawerk-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung (2005), Arbeitsstipendium des Berliner Senats, Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis (2007), New York Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2008), Writer in Residence Universität Nanjing (2009), Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg (2010), Kunstpreis Berlin (2011), Peter-Huchel-Preis (2012), Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim (2016).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Gegend“, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt 2006
– „Reglose Jagd“, Gedichte, zu Klampen!, Springe 2007
– „Webers Protokoll“, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt 2009
– „Palastwache“, Zwei Geschichten, Probsthayn & Gerlach, Hamburg 2010
– „Sommer vor den Mauern“, Gedichte, Hanser, München 2011
– „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, Roman, Hanser, München 2012
– „Schnelle Nummer“, E-Book, Hanser Box, München 2014
– „Robinson Bahrain. Eine Erzählung“, E-Book, Murmann, Hamburg 2015
– „36,9°“, Roman, Hanser, München 2015
– „Rotlicht. Die Lust, der Markt und wir“, Hanser, München 2017
– „Kreuzzug mit Hund“, Gedichte, Suhrkamp, Berlin, November 2018