Archive sind Einrichtungen, in denen Akten gesammelt werden, Unterlagen, Dinge, die sonst verloren gingen und die etwas bezeugen. Für Ursula Krechel sind Archive aber vor allem Orte von noch nicht erzählten Geschichten. Es ist verblüffend und faszinierend, wie die Schriftstellerin, die 1947 in Trier geboren wurde und ihre literarische Karriere als Theaterautorin, Essayistin und Lyrikerin begann, dürre Materialien zum Leben erweckt und aus schlichten Daten schillernde Romanstoffe macht. In „Shanghai, fern von wo“ (2008) hatte Krechel die Lebensgeschichten jüdischer Flüchtlinge in China miteinander verwoben, und in „Landgericht“ (2012) war die restaurative Bundesrepublik in all ihrer lähmenden Enge auferstanden – der Richter Kornitzer, aus dem Exil zurückgekehrt, musste tagtäglich mit Antisemitismus und Verdrängung umgehen. In ihrem neuen Roman „Geisterbahn“ richtet sich Ursula Krechels Blick wieder auf eine Familie, die während der Nazizeit der Verfolgung ausgesetzt war. Dabei hatten auch ihre Väter und Söhne gerade noch im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Aber weil sie Sinti sind, werden die Dorns zu Opfern der mörderischen NS-Politik: Internierung, Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit. Und nach dem Krieg tun alle so, als wäre nie etwas gewesen. Ursula Krechel erzählt eine fesselnde Geschichte über das, was gerade erst war und mitnichten vorbei ist. Das Vergangene ist eben nicht vergangen, sondern türmt sich zu einem Schichtengebilde auf. (M. A.)
Auszeichnungen u. a.: Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1986, 1992), Internationaler Eifel-Literaturpreis, Martha-Saalfeld-Preis (1994), Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben (1995), Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis (1997), Hermann-Hesse-Stipendium der Stadt Calw (2006), Rheingau Literatur Preis (2008), Joseph-Breitbach-Preis, Kunstpreis Rheinland-Pfalz (2009), Deutscher Buchpreis (2012), Heinrich-Heine-Gastdozentur (2013), Gerty-Spies-Literaturpreis (2015).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Verwundbar wie in den besten Zeiten“, Gedichte, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1979
– „Zweite Natur“, Roman, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1981
– „Rohschnitt. Gedicht in sechzig Sequenzen“, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1983
– „Vom Feuer lernen“, Gedichte, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1985
– „Kakaoblau. Gedichte für Erwachsende“, Residenz, Salzburg/Wien 1989
– „Die Freunde des Wetterleuchtens“, Luchterhand, Frankfurt a. M. 1990
– „Technik des Erwachens“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „Mit dem Körper des Vaters spielen“, Essays, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „Sizilianer des Gefühls“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993
– „Landläufiges Wunder“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Ungezürnt. Gedichte, Lichter, Lesezeichen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997
– „Verbeugungen vor der Luft“, Gedichte, Residenz, Salzburg 1999
– „Der Übergriff“, Erzählung, Jung und Jung, Salzburg 2001
– „Stimmen aus dem harten Kern“, Gedicht, Jung und Jung, Salzburg 2005
– „Mittelwärts“, Gedicht, zu Klampen!, Springe 2006
– „Shanghai fern von wo“, Roman, Jung und Jung, Salzburg 2008
– „Jäh erhellte Dunkelheit“, Gedichte, Jung und Jung, Salzburg 2010
– „Landgericht“, Roman, Jung und Jung, Salzburg 2012
– „Die da“, Ausgewählte Gedichte, Jung und Jung, Salzburg 2013
– „Stark und leise. Pionierinnen“, Jung und Jung, Salzburg 2015
– „Geisterbahn“, Roman, Jung und Jung, Salzburg, September 2018