Mit dem Blick eines Staunenden
Dieses hochsommerliche Autorenporträt bietet ein Paradox: Eine wiederkehrende Konstellation in Christoph Ransmayrs Büchern, vom Debütroman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ an über die beklemmende Atmosphäre am Ovid‘schen Exilort Tomi in „Die letzte Welt“, das Alpenhochland in „Morbus Kitahara“ und das Himalaya-Höchstland in „Der fliegende Berg“ bis zur kalten Nordgrenze des chinesischen Reichs in „Cox oder Der Lauf der Zeit“, dem jüngsten Roman, sind Schneelandschaften. Diese Texte stellen uns Verhaltenslehren der Kälte vor und sind doch von einer Wärme gegenüber den darin erzählten Menschen geprägt, die sie unvergesslich macht. Und weltweit erfolgreich – Ransmayr gehört zu den meist übersetzten deutschsprachigen Autoren.
Der dreiundsechzigjährige Österreicher ist aber auch der weltweit meist gereiste deutschsprachige Schriftsteller: Sein „Atlas eines ängstlichen Mannes“ – noch ein Paradox angesichts der Neugier auf die Fremde, die ihn antreibt – führt uns als Herzkammer seines bisherigen Werks rund um die Erde, zu den unterschiedlichsten Landschaften und Kulturen, und allen begegnet Ransmayr mit jenem literarischen Blick, der auch seine fiktive Prosa auszeichnet: dem eines Staunenden. „Ich sah“ – so beginnt jeder Eintrag im „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Das ist die ultimative Beglaubigungsfloskel in Ransmayrs Ästhetik, denn das Sehen öffnet den Menschen erst nach außen für andere. Und dann kann er sprechen und gehört werden, das erzählende Welterfinden also in Gang bringen. Seine Romane aber kann Christoph Ransmayr anders als die Reiseimpressionen nicht einzig über das eigene Sehen legitimieren, denn es sind mit einer einzigen Ausnahme Geschichten aus anderen Zeiten: fast hundertfünfzig Jahre her die Nordpolfahrt in den „Schrecken des Eises und der Finsternis“, zwei Jahrtausende her die Suche des Römers Cotta nach Ovid in „Die letzte Welt“, 260 Jahre her die Reise eines englischen Uhrmachers zum Kaiser von China in „Cox oder Der Lauf der Zeit“ und eine unbestimmte Zeitspanne her – oder auch hin, jedenfalls nicht in unserer Gegenwart angesiedelt – das im literarischen Sinne fantastische Nachkriegsgeschehen aus „Morbus Kitahara“, dem Roman, der bezeichnenderweise im Titel eine Krankheit trägt. Ransmayrs Werk ist von einer ungewöhnlichen thematischen Geschlossenheit, obwohl es formal und auch inhaltlich so offen ist.
Andreas Platthaus
aktuell: Cox oder Der Lauf der Zeit. S. Fischer. Frankfurt a. M., Okt 2016