Viele Jahrzehnte lang hat es die deutsche Gesellschaft vorgezogen, vor Migration die Augen zu schließen und nicht darüber zu reden. Inzwischen aber ist kraft des Faktischen das Thema nicht nur in aller Munde, sondern beginnt zugleich, die Demokratie zu verändern. Auswirkungen einer je nach Standort aggressiv-angstgeprägten oder moralisch überheblichen Debatte lassen sich kaum mehr leugnen: Wahlen werden davon bestimmt, und das Spektrum der Parteienlandschaft verschiebt sich nach rechts. Ist das verständlich und legitim? Ist es illegitim und verwerflich? Im schmalen Reclam-Bändchen „Migration und Demokratie“ hat der Politologe Oliviero Angeli unlängst versucht, die divergierenden Positionen zusammenzudenken. Vor dem moralphilosophischen Hintergrund, dass alle Menschen – und damit auch menschliche Institutionen wie Staaten – ein Recht auf autonome Entscheidungen haben, kommt er zur „paradoxen Schlussfolgerung, dass Autonomie zwei Rechte begründet, die sich gegenseitig widersprechen, nämlich erstens das Recht auf Einwanderung und zweitens das Recht auf Ausschluss“. Idealisten und Pragmatiker in der Migrationsdebatte haben sich also notgedrungen zusammenzuraufen und eine Lösung im Streit um Zuwanderung oder Abschottung zu finden. Dabei muss man auf Augenhöhe miteinander debattieren, ohne dem anderen unlautere Motive zu unterstellen: „Angesichts unvermeidlicher Meinungsverschiedenheiten erfordert das friedliche Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft, dass sich Bürger gegenseitig als politisch Gleiche anerkennen.“ Pragmatismus ist vonnöten – und welcher Ort einer vernunftgeleiteten Debattenkultur wäre dafür geeigneter als das Erlanger Poetenfest?
Florian Felix Weyh
Mit Übertragung in Gebärdensprache