Das blindgeweinte Jahrhundert
„Es kommt drauf an“, murmelt das Kind vor sich hin, das Marcel Beyer einmal war. Es kommt drauf an. Das scheint das Lebensmotto des Marcel Beyer zu sein. Worauf? Auf die Sprache und auf das, „was hinter der Sprache lauert“. Auf das Sprechen und Mitreden und Einmischen, auf das Zuhören und Aufschreiben. Was interessiert den Schriftsteller, was fasziniert ihn? Ganz grob skizziert: Menschen, Sprache, Literatur, Tiere, Musik, Malerei, Zeit- und Gegenwartsgeschichte, die Wissenschaft. Und in der Wissenschaft besonders die Biologie, in der Literatur ganz besonders Friederike Mayröcker und in der Musik die Gegenwartskomponisten. Man könnte das Blatt mit den Interessensgebieten dieses Mannes weiter schreiben, der 1965 geboren wurde, in Kiel und Neuss aufwuchs und sich den schönen melodischen Klang des Rheinlands erhalten hat. Als 1995 sein Roman „Flughunde“ erschien, war Marcel Beyer ein dreißigjähriger junger Mann und „a star was born“.
Nach seinem Bericht über den „Schallsammler“ Herrmann Karnau in Hitlers Propagandaministerium in „Flughunde“ gelang Beyer 2009 mit „Kaltenburg“ eine faszinierende Studie über die letzten Tage von Hitlers Imperium und zugleich eine Darstellung der fatalen Verführungskraft des Klangs. Wie mit einem Punktstrahler knallte aus den zentimetergenau inszenierten Szenerien des Dritten Reichs grelles Licht auch auf unsere heutige Dauerbeschallung. Wer seinen Roman „Kaltenburg“ gelesen hat, weiß, dass Beyer auch das brennende Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 unvergesslich dargestellt hat. In der Figur von Kaltenburg setzt Beyer den berühmten Verhaltensforscher und Ornithologen Konrad Lorenz ins Bild und dessen Verstrickung ins Nazi-Reich.
So, als müsste Marcel Beyer sich nach diesen Studien über die Verführbarkeit des Menschen zwischen den komplexen, sowohl fiktiven als auch zeithistorischen Themen wieder in einer anderen Welt umschauen, reist er, beschäftigt sich mit Bildern, zum Beispiel mit niederländischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert, widmet sich dem Verfassen von Opernlibretti, von Essays, von Aufsätzen, diskutiert, sitzt auf Podien, ist im besten Sinne ein an den Themen der Gegenwart teilnehmender sympathischer und enorm kommunikativer Zeitgenosse.
Als ein politischer und neugieriger Mensch, der – vielleicht auch weil die Stadt schön und die Mieten erschwinglich waren – 1996 nach Dresden gezogen ist, sah er sich mit den Pegida-Umzügen und dem anwachsenden Rechtsradikalismus konfrontiert. Marcel Beyer wurde, wie er es nennt, „dünnhäutiger“. Er begann, sich einzumischen, Essays zu schreiben, Vorträge in der Reihe „Zur geistigen Situation der Zeit“ zu halten. Erst kürzlich meldete er sich in der FAZ zu Wort: „An welcher Grenze kommt das Menschliche abhanden?“ Er sprach als „jemand, der in Dresden lebt, der Stadt, in der sich Holocaustleugner heute so pudelwohl fühlen, wie in keiner anderen deutschen Stadt ...“.
Er nutzt seine Beschreibungs- und Darstellungskunst für politische Appelle. 2017 erschien ein Essayband unter dem Titel „Das blindgeweinte Jahrhundert“. Was ihm da zum Thema „Tränen“ alles eingefallen ist! Der Band ist eine kulturhistorische Reise bester Qualität. Vom Philosophen Adorno, der im Hörsaal von barbusigen Studentinnen gedemütigt wurde und sein Weinen hinter seiner Aktentasche verbarg, zum weinenden Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola, zu den Tränen der Wiedervereinigung.
Das Weinen der Welt findet in Marcel Beyers wunderbar überraschendem Buch im weltbekannten Sänger „Heintje“ seinen Starinterpreten. Heintje ist der Zeitzeuge einer Kitschsehnsucht, er ist auch eine Doppelfigur, die Großeltern müssen im kleinen Marcel eine Ähnlichkeit mit dem Sänger erkannt haben. Und er ist das Kind, dem das gefällt. Und die Tränen fließen. Noch nie hat Marcel Beyer so viel über sich, seine Kindheit, seine Großeltern, über Privates erzählt. Er, der „Heintje“, in dem ein „Dämon“ steckt. Der Dämon des Autors, der für sich herausgefunden hat, dass es für ihn die beste Weise ist, der Welt Herr zu werden, indem er sich in ihr verliert. Und wir profitieren von der Mischung aus Poesie, Imagination, Kenntnis und enormer literarischer Kennerschaft.
Verena Auffermann
aktuell: Muskatblut, Muskatblüt. Zwiesprachen. Wunderhorn, Heidelberg 2016
Das blindgeweinte Jahrhundert. Essay. Suhrkamp, Berlin 2017